Unlängst fiel mir beim Warten auf einen Soundcheck ein Stadtmagazin aus Nürnberg in die Hände. Ich blieb an einem kurzen Artikel über die schwierige Situation von großen Festival-Veranstaltern hängen, in dem sich lautstark darüber beschwert wurde, dass es keinen Headliner-Nachwuchs für große internationale Festivals mehr gäbe. Es müssen immer die gleichen großen Rock-Dinosaurier herhalten und das schon seit über 30 Jahren! Nach einigem Nachdenken stellte ich fest: Das stimmt auffallend! Aber warum ist das eigentlich so? Ist der Nachwuchs einfach nur zu schlecht? Was heißt es eigentlich, im 21. Jahrhundert eine Band zu machen?

Um zu verstehen, woher einige der aktuellen Probleme im Musikgeschäft kommen, lohnt es sich, einen kurzen Blick auf die Geschichte dieser noch recht jungen Branche zu werfen. Vor der Erfindung und Verbreitung (!) von Schallplatte und Radio war Musik live und nur live. Da war das Geschäftsmodell noch herrlich einfach. Wer Musik hören wollte, der ging auf ein Konzert. Wer tanzen wollte, der ging auf ein Konzert. Wer ausgehen wollte, der ging auf ein Konzert. Die Musiker bekamen ihre Gagen von den Konzertveranstaltern und das war’s. Das klingt nach angestaubter Geschichte, ist aber noch nicht einmal hundert Jahre her!

Was dann passierte, gleicht in vielfacher Hinsicht dem Goldrausch am Klondike. Die Entwicklung des kommerziellen Radios und die der Schallplattenindustrie ging Hand in Hand, ja gleichsam lebte man wegen- und voneinander in einer Art technisch bedingter Symbiose. Die Leute hörten Musik hauptsächlich im Radio, doch natürlich wollte man nicht nur auf das Radio angewiesen sein und so entstand ein neuer Markt für Schallplatten und für die dazugehörigen Geräte, die Plattenspieler. Dieses unheilige Duo, Radio und Schallplatte, war eine Goldgrube. Musik war plötzlich überall und definierte ganze Generationen und deren Lebensgefühl. Und das schöne daran war: Dieses Geschäft war konkurrenzlos!

Aus genau diesem Grund, der Alleinstellung eines einzelnen Tonträgermediums, hat sich der Musikmarkt entwickelt wie er sich eben entwickelt hat. Es gab lange Zeit keine verbreitete Alternative zur Schallplatte, das heißt man konnte sich mit dem Verkauf von Musik eine goldene Nase verdienen und genau das ist auch passiert. Die Plattenfirmen fuhren in der ersten Zeit unglaubliche Gewinne ein, wohlgemerkt die Plattenfirmen und nicht die Künstler! Von Heinz Ehrhardt wird erzählt, er habe für seine ersten Platten gerade mal ein Prozent des Ertrags bekommen. Die Begründung war damals einfach und plausibel: „Wenn du mehr Platten verkaufst, dann kommen doch auch mehr Leute zu deinen Shows und so verdienst du dann doch auch mehr!“ Das ging lange Zeit gut und stimmte zu dieser Zeit auch noch, denn die Konkurrenz in der Unterhaltungsbranche war immer noch sehr dünn. Wir reden von einer Zeit mit zwei oder drei Fernsehprogrammen (jedenfalls für die, die sich schon einen Fernseher leisten konnten), einer Handvoll Radiostationen und einem Kino in der Stadt. Tatsächlich konnten Künstler in dieser Zeit noch von ihren Gagen leben. Nicht üppig, aber immerhin.

Dann kamen die wilden Jahre des Beat und des Rock und einzelne Künstler begehrten auf. Sie sagten schlicht und einfach Nein zu den bisher üblichen Verträgen und forderten ihren Teil am Kuchen ein – und sie hatten Erfolg damit. Die Plattenfirmen hatten viele Jahre erfolgreich verdient und die Kassen waren voll, zu voll, würde man heute sagen. Der Goldrausch war in vollem Gange und es war auch kein Ende abzusehen, also wurden Künstler mit Geld überschüttet – es war die Geburtsstunde der Rockstars! Die Summen waren obszön und Geld spielte damals keine Rolle. Es kam zu Auswüchsen, die unser Bild vom Berufsmusiker und den Plattenfirmen bis heute prägen. Es ist mir wichtig an der Stelle deutlich darauf hinzuweisen, dass sich das Bild des Rockstars aus den Geschichten dieser Zeit nährt, die Welt heute aber in jeder Hinsicht eine andere ist!

Die Hochstimmung der musikalischen Goldgräber hielt an, bis eine Erfindung die Welt veränderte: Die CD. Zunächst waren die Plattenfirmen Feuer und Flamme für diese neue Erfindung und die Verbreitung der CD Player wurde von ihnen sogar massiv unterstützt, weil sie den Backkatalog ihrer Künstler auf diese Weise praktisch noch einmal verkaufen konnten! Ein traumhaftes Geschäft, bei dem aber nicht richtig nachgedacht wurde. Was digital ist, ist auch immer viel leichter kopierbar und daran hatte einfach keiner gedacht! Was nun folgt, ist schnell erzählt. Mit der neuen Finanzspritze aus den CD Verkäufen (von Alben, die ja schon längst eingespielt und damit bezahlt waren!) heizte sich das Feuer unter dem Hexenkessel der Musikindustrie noch weiter an. Es waren die letzten Jahre, in der noch echte Rockstars gebacken wurden! Eben die Art von Headlinern, die im Artikel aus der Nürnberger Stadtzeitung so schmerzlich vermisst werden.

Es folgte der Absturz, schnell, hart und unnachgiebig. Mit den Homecomputern war plötzlich eine verbreitete Möglichkeit zum Kopieren von CDs vorhanden. Der Konsument lernte, dass man eine CD kopieren und die Musik in der gleichen Qualität verwenden kann wie bei einer gekauften CD. Doch dabei sollte es nicht bleiben. Das Internet war gerade dabei, sich von einer universitären Nische zu einem angesagten und allgemein zugänglichen Medium zu entwickeln und das hatte gleich mehrere unangenehme Folgen für die Musikindustrie. Zum einen konnte nun plötzlich digitale Musik getauscht werden, ohne dass dafür noch ein persönlicher Kontakt nötig war. Die CD musste ja immerhin noch von einem Freund gebrannt oder verliehen werden, Napster erlaubte aber einen Tausch über die ganze Welt! Doch damit nicht genug!

Gab es in den guten alten Zeiten noch drei Fernsehsender, ein paar Radiostationen und das Kino, so gab es plötzlich unzählige Sender, Video- und DVD-Abspielgeräte für Zuhause, ganze Home-Entertainment-Anlagen und diverse andere Konkurrenten um die knappe Freizeit, wie zum Beispiel die Computerspiele! Alle wollten nur eines vom Konsumenten: Seine Zeit und sein Geld. Im Boxen würde man das eine Links-Rechts-Kombination nennen. Mit dem ersten Schlag werden die Umsätze durch illegale Kopien vermindert, um dann mit dem zweiten Schlag die konkurrierenden Freizeitangebote deutlich zu erhöhen und verbessern. Das alte Geschäftsmodell war am Ende.

Damit sind wir im Hier und Jetzt angekommen und was mich heute bewegt, wenn ich über dieses Thema spreche oder schreibe. Mit meiner Band Saltatio Mortis sind wir seit dem Jahr 2000 im Geschäft und wir haben einiges erreicht, mehr als wir uns erträumt hätten. Sechs Alben in den Charts, davon das Beste auf Platz 3 (Nachtrag: mittlerweile auch ein Album, welches sogar Platz 1 erreicht hat), vierstelliger Tourschnitt und eine Reihe treuer Fans. Wenn man nur diesen Teil der Medaille sieht, dann könnte man von einer recht erfolgreichen Band ausgehen, zwar noch keine Rockstars à la Stones oder Iron Maiden, aber schon in der Bundesliga angekommen. Somit sind wir immer wieder mit einer Erwartungshaltung konfrontiert, die eben an genau das Musikerbild aus den 70er Jahren anknüpft: „Wer solange erfolgreich Musik macht, der hat doch genug Geld!“ Doch leider stimmt das nicht mehr. Wer heute Musik macht, hat an vielen Stellen zu kämpfen und zwar um sein nacktes Überleben! Ein Tourplan von 70 bis 100 Shows pro Jahr, alle zwei Jahre ein neues Album, dazwischen Live-CD und DVDs, das alles lässt den Beteiligten keinen Platz mehr für einen Job, die Musik ist Beruf geworden. Daraus ergibt sich zwingend, dass man davon Leben können muss oder es eben bleiben lässt, ähm, das Musik machen meine ich, nicht das Leben an sich. Das bedeutet weiter, dass für die Leistung und die eingesetzte Zeit, die jeder erbringt, ein finanzieller Rückfluss entstehen muss. Genau hier liegt aber das Problem. Wir leben nicht mehr zu Zeiten von Heinz Erhardt, heute gilt „Geiz ist geil“, der aktuelle Armutsbericht (ob geschönt oder nicht) stellt fest, dass immer mehr Menschen immer weniger zum Leben haben und die Konkurrenz der Unterhaltungsangebote ist riesig, die digitale Kopie für lau ist praktisch immer verfügbar und die Kosten für Konzerte laufen aus dem Ruder. Doch eines nach dem anderen.

Wie finanziert sich heute eine Band wie wir eigentlich? Letztlich ist die Rechnung so erschreckend wie einfach, ca. 64% aus Gagen für Livekonzerte, ca. 35% aus Merchandise. Das letzte kleine Prozent ist das, was über Lizenzen etc. dazukommt, wohl bemerkt reden wir hier vom Ertrag (genauer vom Deckungsbeitrag für die BWLer hier) und nicht von Umsätzen! Das bedeutet, das wir derzeit unsere Kosten für die Produktion von Musik mit den erzielten Umsätzen decken können. Noch. Es ist aber absehbar, dass dies nicht für immer so bleiben wird. Leider bringt die digitale Welt nicht nur Segen mit sich. Wenn man mal von illegalen Kopien absieht, hat sich das Verhalten der Konsumenten zur Musik auch stark gewandelt. In Zeiten des iPods werden verstärkt einzelne Songs geladen (und auch bezahlt!), trotzdem führt das dazu, dass die Kosten für eine CD-Produktion konstant bleiben, der Umsatz aber einbricht. Dazu kommen neue Angebote wie Streaming-Dienste, die aber so wenig Geld für die Musiker ausspucken, dass man hier schlicht auch von einer Gratis-PR-Aktion sprechen kann, jedenfalls aus Sicht der Bands. Um unsere letzte CD via Streaming zu finanzieren, müssten wir deutlich über 30 Millionen Streams haben. Zum Vergleich: Diese Platte im Eigenlabel rechnet sich nach ca. 15.000 verkauften Einheiten und die gleiche CD über eine Plattenfirma schreibt ab ca. 40.000 verkauften CDs schwarze Zahlen.

Eigentlich ist dem aufmerksamen Leser, der bis hierher durchgehalten hat, jetzt schon klar, wo der eingangs vermisste Nachwuchs bleibt – nämlich Zuhause oder im Proberaum seiner Amateurband! Die Rockstar-Headliner, die so dringend gesucht werden, hatten nämlich zwei Dinge, die Bands heute nicht mehr haben – Geld und Zeit! Da wurden Unsummen für Werbung, Touren und natürlich auch das Leben der Musiker ausgegeben und die Bands hatten Zeit zu wachsen! Heute ist das anders, die wenigstens Plattenfirmen haben noch die Mittel, Künstler aufzubauen, zu oft werden Bands an die Wand geworfen und nach zwei CDs fallengelassen. Sinnvoller Aufbau geht eben nicht ohne Geduld, kompetenten (!) Rat und Geld, viel Geld. In unserer schnelllebigen Zeit ist es einfacher, einen Superstar via Castingshow zu züchten, auszusaugen und wegzuwerfen, als substanziellen Aufbau zu betreiben. Somit fließt das Geld in die sichere Anlage der Plastik- und Einwegstars und ist damit ein Sinnbild unserer Gesellschaft. Oder anders formuliert: Jede Gesellschaft hat eben die Künstler, die sie verdient!

Doch damit nicht genug. Die großen Plattenfirmen haben die Zeichen der Zeit durchaus erkannt und steuern dagegen, aber wie ich finde mit den falschen Strategien. Der neueste Geniestreich sind die 360-Grad-Verträge. Damit ist ganz einfach gemeint, dass eine Plattenfirma nicht nur an den Umsätzen aus dem Verkauf von Musik mitverdient, sondern auch am Merchandise und an den Toureinnahmen, schlicht an allem, was reinkommt! In unserem Fall wäre ein Vertrag, wie er derzeit üblich ist, unser Todesurteil und das obwohl wir nicht mehr am Anfang unserer Kariere stehen! Wenn ich mir nun überlege, unter diesen Bedingungen von neuem zu starten, dann würde ich bei aller Liebe zu meinem Beruf diesen Weg nicht noch einmal gehen.

Natürlich höre ich schon beim Schreiben dieser Zeilen die Jünger der neuen Religion Namens Internet, die unerschütterlich im Glauben an das gerechte Netz nun entgegnen, dass durch das Internet die Chancen von kleinen Bands doch so gut sind wie noch nie! Das stimmt im gleichen Maße wie es falsch ist. Wahr ist ohne Zweifel, dass heute jeder noch so kleine und spezielle Künstler seine Nische im Netz finden kann und dort unter Umständen auch genug Geld verdient, um davon zu leben. Es ist eben aber auch wahr, dass eine Band mit sechs, oder wie wir sogar acht Musikern, aufwendiger Liveshow und vielen Tagen auf der Straße sich nicht alleine durch das Netz refinanzieren kann. In dem gleichen Maße wie das Netz die ganz kleinen Nischen schützt und fördert, fördert es auch die ganz Großen, aber alles was dazwischen liegt, das hat leider nichts vom Boom, da halten sich Chancen und Risiken in etwa die Waage. Ja, auch wir profitieren vom Netz und den vielfältigen Chancen dort, aber wir werden eben auch getroffen von den vielen „unsonst“ oder „zu billig“ Angeboten, seien es Tauschbörsen, Streamingdienste oder der Einzelsongkauf bei iTunes.

Um nicht falsch verstanden zu werden, ich will hier nicht jammern und schon gar nicht will ich das Rad der Zeit zurückdrehen. Ich sehe diese neue Musikwelt als eine spannende Chance und suche jeden Tag nach Ideen, wie ich und meine Band noch viele Jahre diesen wundervollen Beruf ausüben können. Ich persönlich will keine Welt mehr ohne den Luxus des Internets und auch mein eigenes Verhalten als digitaler Konsument hat sich in den letzten 15 Jahren ja deutlich verändert. Es geht mir eigentlich nur um zwei Dinge: Erstens Verständnis für die schwierige Situation der Musiker in dieser Zeit und daraus hoffentlich ein faires Miteinander zwischen Konsument und Künstler! Zweitens will ich die eingangs gestellt Frage beantworten, wo bleiben denn die neuen Rockstars alter Prägung? Nun, ich fürchte sie sterben aus, aber ist das nun schlecht? Ich glaube nicht. Die Veranstalter, die sich in dem eingangs erwähnten Artikel selbst leid taten, werden sich dieser neuen Musikwelt genauso stellen müssen, wie wir Bands das heute schon tun. Sie werden nicht mehr ewig auf die rollenden Steine, eisernen Jungfrauen und Wechselstrom/Gleichstrom-Dinos setzen können und sie täten gut daran, aus den Fehlern der Plattenbosse zu lernen und heute damit zu beginnen, neue Festivalformen zu entwickeln, bei der nicht nur ein großer Headliner alles ziehen muss, sondern Vielfalt seinen Platz findet.

Euer Lasterbalk